I. Dekolonisation als Moment und Prozess (7 – 27)

1) 2 optische Leckerbissen vorweg: Eine png-Map „Kolonialmächte und Kolonialgebiete 1945“ https://de.wikipedia.org/wiki/Dekolonisation#/media/Datei:Colonization_1945.png – sowie eine gif-Geo-Bilderstrecke zur „Chronologie der Unabhängigkeit afrikanischer Länder“ https://de.wikipedia.org/wiki/Dekolonisation#/media/Datei:African_nations_order_of_independence_1950-1993.gif.

2) Dekolonisation: Bedeutung und Begriff: 1: Dekolonisation als vielleicht der wichtigste historische Prozess des 20. Jahrhunderts (D. Rothermund). 2: Der Begriff mutet technisch, undramatisch, aus der Verwaltungspraxis kommend an. 3: Da er mehr als 100 spezifische Entitäten betroffen hat und der Prozeß heute immer noch nicht restlos abgeschlossen ist, gebe ich die (engen) definitorischen Annäherungen (7) (auch aus Platznot) hier nicht wieder.

3) Verschiedene Kolonialismen und Dekolonisationen: 1: Eine Dimensionalität war „the end of empires„, die Europäisierung Europas, Europa wird auf sich selbst zurückgeworfen, es baut neue Strukturen auf (EWG/1957). 2: Die europäische Idee des Nationalismus (ab 19. Jahrhundert) änderte an den kolonialen Realitäten (lange Zeit) wenig. 3: Das UK war prae WW1 das einzige wahrhafte Welt-Reich (auf allen Kontinenten kolonial vertreten, es herrschte auch über Europäer, über self-governing-Subjekte und war militärisch wie finanziell einzigartig aufgestellt). 4: Alle anderen Kolonialreiche waren deutlich kleiner (s. die obige Map). 5: Verlauf: Alle überstanden WW1 (Ausnahme Deutschland), sie retteten sich sogar über die Ziellinie WW2 – 1975 waren sie weitgehend verschwunden. 6: Die Bildung neuer Staaten konnte in mehrerlei Form sich vollziehen: 1. Schrumpfung auf den Kern (la France). 2. Zerfall in Nachfolgestaaten (Habsburger Reich). 3. Selten Zusammenfügung zu größeren Einheiten. 4. Das 20. Jahrhundert war eine Epoche der geopolitischen Fragmentierung.

4) Das Jahr 1960 war ein besonderes Jahr: 1: Es markiert einen dramatischen Wandel im weltweiten Meinungsklima. 2: Die UN-Resolution 1514 (die 1. Initiative kam von der SU) bekräftigt das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, ächtet Kolonialismus (wie Rassismus) (89 Staaten votierten dafür, 0 dagegen – bei 9 Enthaltungen, darunter UK, USA, France, Portugal, Spanien u.a.).

5) Ein zuerst nur sehr langsam anschwellender Tsunami: 1: Der „Völkerbund“ (1919+) (Asien war mit 3 Staaten, Afrika mit 2 vertreten) konnte noch vieles in den alten kolonialistischen Gleisen halten. Die beteiligten westlichen Kolonial-Eliten sollten noch lange Zeit über das Ende von WW2 hinaus in ihrer Parallelwelt weiterleben. 2: 1945 war natürlich ein gravierender Einschnitt – zum einen, zum anderen war die antikoloniale Dynamik noch in einem Frühstadium. Die UN unterschied sich anfangs nicht besonders grundlegend vom Völkerbund. 3: Dann entwickelte sich eine Art „Souveränitätsmaschine“ bzw. eine einbrechende Zahl von Kolonien: 1913 163, 1965 68 und 1995 33. Umgekehrt nahm die Zahl der (mehr oder weniger souveränen) UN-Mitglieder folgendermaßen zu: 1975 175, 2024 193 Mitglieder. Die Dichotomie Metropole vs. Kolonie paßt nicht mehr (vollständig) zu heutigen Souveränitätslagen. 4: Diese antikolonialen Befreiungsprozesse haben zu Millionen Toten geführt, was in den Täterländern teils (lange Zeit) vollständig unter den Teppich gekehrt wurde (Madagaskar, Kenia), teils heruntergespielt wurde (z.B. Italien in Libyen unter dem König, dann unter Mussolini). Teils schlossen sich gewaltsame innere Konflikte an. Eine noch drastisch untererforschte Dimensionalität.

6) Mitunter werden historische Vorgänge mit einem einzigen Tag verknüpft – wie Unabhängigkeitstage (z.B. 4.7.1776/USA). Die realen Machtübergänge von mehr als 100 Kolonien spannen ein sehr großes Spektrum von Facetten auf. 2 Grundtypen wären der friedliche Machttransfer und die einseitige Unabhängigkeitserklärung. Der Übergangsprozeß kann sich auf einen Tag konzentrieren – oder sich auch über Jahrzehnte hinziehen. Die Historiker können sowohl einen ereignisgeschichtlichen Zugriff (mit einer kürzeren Zeitoptik) wie auch „Makrokontexte“ einbringen (mit einer Zeitoptik, die Jahrhunderte in den Blick nehmen kann). Ein Überflieger-Beispiel für den letzteren Fall und für Imperialhistorie ist das Werk von John Darwin: Der Imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer (eurasischer/HzK) Reiche 1400 – 2000 (2007+), der zudem statt der mehr maritimen Dekolonisierungsszene riesige Landmassenreiche thematisiert.

7) Empirepolitik (im 20. Jahrhundert): UK vs. USA: Die UK-Politik, die (mitunter) mit vielen (nicht unbedingt inhärenten) Abstufungen oder Differenzierungen arbeitete, konnte viele Situationen zu ihren Gunsten entschärfen; die einzige einseitige Unabhängigkeitserklärung weißer Siedler vollzog sich mit der Sezession Südrhodesiens (1965). Auf deren anderen Seite konnte bei den Kolonialvölkern der einstige Rebellenstaat USA sich noch lange trotz mancher imperialistischer Eskapaden mit den Resten eines Images als antikoloniale Großmacht umgeben; so zitierte selbst Ho Chi Minh, als er am 2.9.45 die Demokratische Republik Vietnam ausrief, aus der Declaration of Independence von 1776.

8) Analyseperspektiven und Erklärungsmodelle: 1: Die Autoren unterscheiden und erläutern 3 übergeordnete analytische Perspektiven, nämlich die imperiale (die die letzte Etappe eines Imperiums einordnet), die lokale (oder auch regionale) und die internationale (ein Beispiel wäre die Genfer Indochinakonferenz 1954). Ein Frageraster, welches eingeteilt in – Merkmale der späten Kolonialzeit (1), Äußere Bedingungen, Verlauf des Dekolonisationsprozesses und Kurz- und mittel-fristige Fragen (4) – ein paar Dutzend konkreter gehaltene Subthemen auflistet, folgt als nächstes. 2: Bereits in der Literatur vor etwa 1980 finden sich 5 allgemeine Erklärungsmodelle (zuerst mehr in Reinform, späterhin oft kombiniert benutzt): Die Modelle betreffen Machtübertragung (1), Selbstbefreiung, Neokolonialismus (primäre Ziele des Kolonialismus werden ohne direkt staatliche Beherrschung durchgesetzt), Entlastung (Dekolonisation als planvolle „Modernisierung“, indem diverse negative Aspekte gestutzt werden) sowie Weltpolitik (5) (reagiert auf die bipolare nukleare Realität mit Rückzugsgefechten). 3: Bilanzierend hat sich heute klarer dreierlei herauskristallisiert: 1. Das Ende von Imperien/Kolonien hat keineswegs zu einem Zustand hierarchiefreier Koexistenz friedlicher Nationalstaaten geführt. 2. Die Kolonialmächte haben die Dekolonisation wirtschaftlich wie politisch (überraschend) gut überstanden. 3. Es gibt keine direkte Korrelation zwischen kolonialer Lage, Dekolonisationsprozess und der heutigen Situation von Staaten (z.B. können ehemalige Kolonien heute sehr arm, aber auch wohlhabend sein).

(9.10.25)


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