1) Beendete WW1 oder WW2 das „Zeitalter des Imperialismus“? Imperien bildeten bis 1945 weltweit die dominante politische Organisationsform. In WW1 setzten UK wie Frankreich zusammen Kolonialbevölkerung im Millionenbereich ein. Zwar verschwanden die WW1-Verlierer als Kolonialmächte, die Gewinner konservierten aber ihre Kolonialreiche oder vergrößerten sie sogar (aus Verlierer-Territorien). Die Satzung des Völkerbundes (1920+) bekannte sich zur „Zivilisierungsmission“ des Westens. Selbst die „revisionistische“ Anfechtung der Nachkriegsordnung (.it, .jp wie .de) kam in Gestalt neuer (sehr expansiver) Imperialismen daher.
2) Weshalb kann man dennoch eine Geschichte der Dekolonisation mit WW1 beginnen lassen? 1: Global gesehen ging die Kolonialherrschaft (an sich) relativ unbeschadet aus WW1 hervor. Aber ab der Endphase des Kriegs (1917+) und in der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es zu einer intensiveren Phase antikolonialer Mobilisierung in reichlich Staaten weltweit. 2: Die Autoren sehen (gleichzeitig) den Beginn des Aufkommens einer Strategie der Internationalisierung antikolonialen Protests. In diesem Rahmen wurde sich zunehmend auf das 14-Punkte-Programm (8.1.18) des US-Präsidenten W. Wilson (1856-1924) bezogen – das dortige „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ fand eine oftmalige Bezugnahme, die gerne mit unterschiedlichen antikolonialen Ausgangsideologien kreativ gepaart wurde (zu Wilson – einem US-Südstaaten-Rassisten – siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson/). Die Völkerbundsmandate waren auf „Hinführung zur nationalen Unabhängigkeit“ explizit zwingend hinformuliert – schöne (weitgehend leere) Worte… 3: In Reaktion auf lokalen wie internationalen Druck sahen sich die Kolonialmächte vor allem seit 1917 zu diversen Reformversprechen genötigt (sie betrafen z.B. britische Dominions, Indien, die arabische Welt). Dieser „Reformeifer“ erlosch mit Kriegsende.
3) Die Themengebiete Antikolonialismus und Nationalismus spannen zahllose riesengroße Kosmen auf: 1: Nach dem WW1 wuchs der antikoloniale Protest in vielen Lokalitäten – zu bislang unbekannten Ausmaßen und Qualitäten, (oft) von punktuellen Ereignissen zu politischen Bewegungen. 2: In der Zwischenkriegszeit lag der Schwerpunkt in Asien und Nordafrika, wobei er manchmal stärker zurückreichte (Vietnam) oder doch erst nach dem WW2 stärker in Erscheinung trat (z.B. im subsaharischen Afrika). 3: Kurze konzentrierte Erwähnung finden (S. 32++) dabei zahlreiche regionale Entitäten wie Indien, Vietnam, NL-Ostindien, Ägypten, der arabische „Nationalismus“, Palästina, der Maghreb (inkl. Algerien und Tunesien), das subsaharische Afrika sowie die panafrikanischen/Négritude-Bewegungen, die panafrikanische, karibische Dimensionen sowie die USA und Paris wie London, allgemeiner englisch- und französisch-sprachige Kosmen miteinander verkoppelten. 4: Antikolonialer Protest bewegte sich in einem weiten Formenspektrum, das man leicht in einen zweistelligen Bereich ausdifferenzieren könnte (von intellektueller Auseinandersetzung bis hin zum bewaffneten Aufstand). 5: Ähnliches gilt für seine Trägerschaft, seine Bewegung und seine Massenbasis. „Kollaborationseliten“ konnten sich zu Antikolonialisten wandeln oder sich sogar an die Spitze von Nationalbewegungen stellen. 6: Ziele und Mittel waren höchst umstritten und wandelbar. In den früheren Phasen könnte man viel unter der Überschrift „Neuverhandlung“ kolonialer Herrschaft unterbringen. Die Forderung nach dem autonomen eigenen Staat ist eher charakteristisch für eine relativ späte Entwicklung. 7: Weltanschaulich kann man (tendenziell) 2 Pole unterscheiden – die Modernisten und die Traditionalisten. Letztere waren selten Konservative europäischen Typs. Ein Beispiel wäre „Mahatma“ Gandhi (1869-1948/Ermordung) mit seinen Vorstellungen von einem agrarischen, nicht-industrialisierten Indien – im Gegensatz zu J. Nehru (1889-1968) als Beispiel für die Modernisten. Sie mußten keineswegs gegeneinander kämpfende Antagonisten sein. Bei den Traditionalisten spielten Religionen oft eine größere Rolle. Es ergab sich keine monolithische Ruhepunktzone, sondern sondern ein kaum übersehbares breites Spektrum; zudem waren biographische Übergänge zu verzeichnen, z.B. im Falle von Bourguiba von islamischer Identität zu säkularer (Jahrzehnte später). In multireligiösen Gemengelagen konnte sich eine desintegrative Dynamik entfalten (z.B. in Indien). 8: Unterschiedliche regionale und „ethnische“ Zugehörigkeiten führten zu weiteren Widerspruchsebenen. Etwa rekrutierte sich die nationalistische Elite in Indonesien hauptsächlich aus Javanern – oder es kämpften Malaiische Nationalisten für ihre Vorrangstellung gegen chinesische und indische Minderheiten. 9: Nicht selten kamen nationalistische Eliten und ihre Massenbewegung in Konflikte zueinander häufig in Verbindung mit sozialen und generationellen Problemen. 10: Das im Nachhinein gerne gezeichnete Bild einer im Kampf gegen die Fremdherrschaft geeinten Nation ist in der Regel eine historische Fiktion, was bei den zahlreichen Einflußfaktoren wie lokalen, „tribalen“, religiösen, regionalen und sogar proimperialen nicht verwunderlich ist. In einigen Fällen eskalierten die Auseinandersetzungen erst nach der Unabhängigkeit. 11: Die antikolonialen Protestbewegungen bildeten zwar keine organisierte Internationale der Kolonialgegner, doch es gab zahlreiche internationale Verbindungen. Viele nationalistische Führer hatten sich längere Zeit im Ausland aufgehalten, bevorzugt in der jeweiligen Kolonialmetropole, später auch vermehrt in den USA oder der SU.
4) Die „spätkoloniale“ Phase des Kolonialismus, die im 20. Jahrhundert zunehmend neue Metamorphosen des Kolonialismus kreiert, zeichnet sich durch die erhebliche Abkehr vom reinen Ausbeutungskolonialismus aus. Erst nach 1918 wird daraus eine breitere Bewegung. Sie führte (bis) zu Debatten über „humanen“ Kolonialismus. Auch die linke Volksfrontregierung in Frankreich (1936/37) hat sich an solchen Reformen probiert.
5) Wie konnten solche politischen Kolonialreformen im Spätkolonialismus aussehen: 1: Die Partizipationsmöglichkeiten auf lokaler Ebene (mitunter auch darüberhinaus) (und andere Dinge wie möglicherweise Versammlungsrecht) wurden vorsichtig ausgeweitet. Das elementare Machtgefüge des kolonialen Staates wurde zwar nicht angetastet, aber die Reformen standen für eine Abkehr vom Ideal des „politikfreien Verwaltens“ (zuvor). Japan, Belgien, NL, Spanien und Portugal zeigten lange die geringste Neigung, derartige Reformen in ihren Kolonialgebieten zu stärken. Die USA (Philippinen) waren weniger zugenagelt. 2: Im Britischen Empire war Indien das wichtigste Experimentierfeld. Ab 1919 vollzog sich eine Indisierung des kolonialen Beamtenapparats. Auf lokaler und provinzialer Ebene gab es gestaffelte Formen von Regierungsbeteiligung – sogar der Terminus „Dyarchie“ (Doppelherrschaft) taucht hier auf. Entscheidende Machtstränge, z.B. ein Notstandsrecht, blieben selbstverständlich in britischen Händen. In anderen Teilen des Empire war das Reformvolumen gewöhnlich kleinformatiger, auf Ceylon bestanden aber ab 1931 sogar ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen. 3: Im französischen Kolonialreich konnten „assimilierte“ Territorien Abgeordnete ins französische Parlament entsenden. In Algerien wurden reformorientierte Schritte durch die Siedler in starkem Maße behindert. 4: Nach 1945 zeichneten sich 2 Hauptstränge, die vereinfachend und zusammenfassend als britischer und französischer Weg sich bezeichnen lassen. Der britische sah eine Politik der Dezentralisierung, der französische eine verstärkte politische Integration von Metropole und Kolonialreich vor. Dort wurde ein nur für „Indigene“ geltener Gesetzeskodex abgeschafft, Zwangsarbeit verboten, die „alten“ Kolonien Martinique, Guadeloupe, Guyana und Le Réunion wurden zu Departements erklärt.
6) Fragen der sozio-ökonomischen Entwicklung und „Modernisierung“: 1: Japan war die einzige Kolonialmacht (vor 1945), die in einer Industrialisierung der Reichsperipherie eine Chance für die Stärkung der Metropole sah und das auch praktisch umsetzte (Taiwan, Südmandschurei und später die ganze Mandschurei und Korea). 2: Die europäischen kolonialen Entwicklungspläne fingen in der Zwischenkriegszeit schüchtern an, WW2 markierte dann aber einen Wendepunkt. Mit den 1940er Jahren brach die eigentliche „Entwicklungsära“ an, was den „spätkolonialen Entwicklungsstaat“ Form annehmen ließ. Er ließ Elemente entstehen, die später von der antikolonialen Befreiungswelle zweckdienlich übernommen werden konnten. 3: Ein Fazit: Zeitpunkt, Art und Intensität spätkolonialer Reformen variierten stark. Alles war Lichtjahre von einer umfassenden übergreifenden Strategie entfernt, es ging mehr darum, kurzfristig auf aufkommende Proteste zu reagieren. Der koloniale Staat war nach wie vor ein repressiver Staat, Zwangsarbeit blieb in vielen Kolonien bis 1945 und darüberhinaus an der Tagesordnung. Die Repressionsmethodik wurde aufgerüstet (z.B. durch Luftraumüberwachung und Vergrößerung der Sicherheitsapparate).
7) Faschistisches Italien, Nationalsozialistisches Deutschland und Imperiales Japan:
1: Italien konzentrierte sich unter Mussolini auf die im Weltkrieg weitgehend verlorenen Teile Libyens. Die umfangreichen Um- und An-siedlungen warfen die Frage eines Genozids auf und inspirierten Kreise im III. Reich. Im siedlerkolonialistischen Nachgang wurden (bis 1939) über 100 000 italienische Immigranten dort angesiedelt. In 10/35 überfiel Italien Abbessinien, ein Mitglied des Völkerbunds, das bis 5/36 mit äußerster Brutalität und unter Einsatz von Giftgas erobert wurde. (Zur Vertiefung empfehle ich Hans Woller (2010): Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. Das Buch hilft grundlegend dabei, beruhigende „optische Täuschungen“ in Sachen Faschismus zu vermeiden.)
2: In den Lebensraumlehren des III. Reichs spielte „Kolonialrevisionismus“ bezogen auf 1884 – 1914 eine nachrangige Rolle. Im Mittelpunkt stand vielmehr die schrittweise Durchsetzung „großdeutscher“ Gebietsansprüche und im Rahmen der Expansion nach Osten die Unterwerfung der SU, wodurch ein kontinentales Äquivalent zum britischen Seeweltreich entstehen sollte. Seine systematische Ausbeutungs-, Versklavungs- und Ausrottungs-politik, sein ideologischer Antrieb durch einen exterminatorischen Rassismus machten das kurzlebige deutsche Kriegsimperium zu einem einmaligen Untergangsprojekt.
3: Die japanische Expansion vollzog sich in der 1. Phase fast ausschließlich auf Kosten seiner Nachbarn China, Korea und Rußland. Mit dem Angriff auf die US-Flotte in Pearl Harbor (7.12.41) begann ein Blitzkrieg, der sämtliche andere Kolonialismen aus der propagierten kommenden „Großostasiatischen und panasiatischen Wohlstandszone“ (inkl. des aufwändig befestigten Singpur) vertrieb. Japan sah sein Heil in der Autarkie eines direkt kontrollierten Großraums, der wegen einer Position der Schwäche präventiv zu sichern war. Mögen zumindest kleine Gruppen die Japaner als Befreier begrüßt haben, so verscherzten sie sich diese Sympathien durch eine Kolonialpolitik, die in vielem (selbst) die vorherigen Kolonialerfahrungen negativ in den Schatten stellte.
8) Führten WW2 und sein unmittelbares Ende zu einem starken Schub in der Dekolonisation? Dies ist nicht der Fall! 1: Zwar bekräftigte die Atlantik-Charta vom 14.8.41 (in einem streng geheimen Treffen unter Leitung von Roosevelt und Churchill auf einem britischen Kriegsschiff vor Neufundland) das Selbstbestimmungsrecht der Völker, obwohl das UK sich um terminologische Abschwächung bemühte. 2: Aber beispielsweise ist das UK in 8/42 in Indien damit durchgekommen, die gesamte Kongressführung zu inhaftieren und bis Kriegsende politisch auszuschalten (!). 3: WW2 endete mit dem Zusammenbruch der Kriegsimperien Italiens, Deutschlands und Japans. Aber trotzdem schloß ein Großteil der politischen Klasse in GB, Frankreich und NL das Aufgeben der Kolonialreiche aus. Hingegen verschärften sie (verbreitet) koloniale Kriegsnotstandsgesetze und Zwangsarbeit. In 5/45 ging Frankreich zur blutigen Repression eines großen Aufstands in Ostalgerien und zum Bombardement nationalistischer Unruhen in Syrien über. 3: Außer Korea, Taiwan und mandschurischer Gebieten Chinas sowie (dem Sonderfall) Äthiopien wurde mit dem Kriegsende keine Kolonie unabhängig.
(2.11.25)
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