1) Grundelemente kolonialistischen Denkens, besonders in seiner reifen Spätform:
(0) 3 (unterschiedliche) Dinge möchte ich vorweg hervorheben: Ohne extreme Vergröberungen scheint es nicht zu gehen. Nicht alle „Weißen“ führten sich als Kolonialherren auf. Als Beispiel wird der Schriftsteller George Orwell (1903-1950) genannt (1922-1927 Polizeioffizier in Burma), der mehrere Kolonialismus-kritische Bücher geschrieben hat (111). Das koloniale Knecht-Herren-Verhältnis hat abseits von den Bedrückungen der Knechtseite auch die Herrenseite (oftmals) „dehumanisiert“.
(1) Anthropologische Gegenbilder: die Konstruktion von inferiorer „Andersartigkeit“: Alles basierte auf einem Differenzaxiom, bei dem sich die Plunspunkte in Europa versammelten, die Minuspunkte außerhalb. Diese Glaubenshaltung nahm in den Jahrhunderten verschiedene Erscheinungsformen an: 1. Heidnische Verworfenheit (theologisch). 2. Minderbeherrschung der Natur (technologisch). 3. Tropisches Habitat schwächt (umweltdeterministisch). 4. Rassismus (biologisch). Dieser wurde in den letzten 3-4 Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Europäern und Amerikanern nahezu sämtlicher politischer Überzeugungen unbefragt als evident richtig betrachtet. 5. Eine Art „Anschlußmodell“ ab den 20er-Jahres des 20. Jahrhundert war die Zuordnung von afrikanischen, orientalischen, indischen (u.a.) angeblichen „Chrakteren„, die deren Träger disqualifiziere. 6. Eine weitere Variante lief unter der Chiffre „Orientalismus“ (s. Edward Said/1978/1935-2003). 7. Es wurde eine „duale“ Wirtschaft in den Kolonien ausgemacht mit der beschränkten Subsistenzwirtschaft vieler Einheimischer auf der einen Seite und der dynamischen exportorientierten und von Europäern geleiteten auf der anderen Seite. 8. Der Asiate sei kein „homo oeconomicus“…
(2) Sendungsglaube und Vormundschaftspflicht: Kolonialherrschaft wurde als Geschenk und Gnadenakt der Zivilisation verherrlicht, als eine Art humanitärer Dauerintervention. Die Aufgabe sei so gewaltig, dass an eine schnelle Erfüllung nicht zu denken sei. Selbst die liberalsten europäischen Vertreter kamen nicht über einen „wohlwollenden Entwicklungskolonialismus“ hinaus. Auch der „Völkerbund“ gründete noch 1920 auf einer solchen Ideologie. Generell spielten britische Wortführer bei (1) und (2) eine bedeutende Rolle.
(3) Die Utopie der Nicht-Politik wurde als koloniales Erfolgskonzept gehandelt. Die Politik ist zu entpolitisieren und alle menschlichen Angelegenheiten sind auf Fragen der ordentlichen Verwaltung zurückzuführen. Nichts sollte die Ruhe des so vakuumisierten Administrierens stören (die Gegenseite klagte über „die erdrückende Last der Langeweile“).
2) „Koloniales Wissen“ äußerte sich 1: als neue Dimensionalität in einer unüberschaubaren zweistelligen Zahl von Disziplinen und Subdisziplinen. Es ist weniger theoretisches als handlungsleitendes Wissen. 2: Insbesondere in Kontexten von „indirect rule“ war das indische Kastensystem für britische Kolonialbeamte von besonderem Interesse, da sie dort den Schlüssel zum Verständnis – und zur Beherrschung – der indischen Gesellschaft verorteten. 3: Das im kolonialen Kontext produzierte und angewandte Wissen war nicht zwangsläufig pro-kolonialistisch. Die deutsche Völkerkunde, die um 1900 in ganz Europa als vorbildlich galt (nach Meinung der Autoren) , stand in einer liberalen, humanistischen Tradition, die auch Raum für Rassismus- und Kolonialismus-kritik ließ. 4: Koloniales Denken beeinflußte auch viele Kolonisierte stark. Viele Inder etwa akzeptierten das britische Vorurteil, sie seien von Natur aus „schwach“. Etwas in der Richtung gab es bei jedem kolonisierten Volk. Andererseits bedienten sie sich auch an vielen europäischen Ansatzpunkten, die sie für ihre Emanzipation verwenden konnten.
3) Keine Kolonialherrschaft kam ohne Symbolpolitik in den Kolonien aus. Sie materialisierte sich in bestimmten Architekturstilen, öffentlichen Denkmälern, Zeremonien sowie der (Um-)Benennung kolonisierter Räume. Zentrale Experimentierfelder und Bühnen waren die Städte, besonders die Hauptstädte. Idealtypisch lassen sich 3 Grundstrategien unterscheiden: 1. Die Mobilisierung (vermeintlicher?) lokaler „Traditionen“. 2. Die Verbreitung von Symboliken der Metropole. 3. Die Verherrlichung der jeweiligen Kolonialgeschichte. Den Vogel bei diesen Inszenierungen schossen wohl die Briten mit der Krönung Viktorias zur Kaiserin von Indien (1877) ab, die sie als direkte Nachfolger der Mogulherrscher ausgaben. Auch Kolonisierte wussten die Symbolsprache zu manipulieren und boten eine eigene an oder inszenierten Symbolbruch.
4) Nachdem eine nationalhistorisch verengte Perspektive sie lange Zeit ignoriert hat, gilt den vielfältigen Rückwirkungen von Kolonialbesitz auf die Metropolen ein besonderes Interesse der Forschung.
1: Eine Spitzenposition nimmt dabei die Erforschung der „Kolonialkultur“ ein. Zwar gab es das Thema auch bereits in der europäischen Neuzeit – aber mit Konzentration auf höfische und akademische Kreise. Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde sie zu zunehmend zu einem Massenphänomen besonderer Art. Aus Kolonialbesitz folgte nicht automatisch Kolonialkultur (und umgekehrt/Beispiel die Schweiz). Mitunter schien die Kolonialkultur mehr mit metropolitaner Kulturgeschichte als mit den Kolonien selbst zu tun zu haben.
2: Kolonialismus hatte einen festen Platz in dem sich ausdifferenzierenden und professionalisierenden Museumswesen. Aus diesen gingen im späten 19. Jahrhundert die öffentlihen Völkerkundemuseen hervor, die in einem Wettlauf jeweils (mit Artefakten) aufgefüllt wurden. Trotz spätem und begrenztem Kolonialreich waren deutsche Völkerkundemuseen um 1900 weltweit führend. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es „Völkerschauen„, also die „Ausstellung“ „exotischer“ Menschen als voyeuristisches Spektakel und lukratives Geschäft.
3: Die kolonialen Einflüsse auf die Metropolen waren schwankend, wurden je nach Umfeld unterschiedlich wahrgenommen, waren durchweg auf aktives Lobbying angewiesen. Nach der „Dekolonisation“ reichte es oft, dass die entsprechenden „Multiplikatoren“ ihre Propagandaaktivitäten einstellten und die Hinterlassenschaften dem Verfall überließen.
4: In jüngster Zeit hat offenbar eine Art „Paradigmenwandel“ eingesetzt (oder eine Art Satire auf jahrhunderlange pro-kolonialistische Propaganda), der mit einem kritischeren Geschichtsbewusstsein verknüpft ist. Nicht selten sind Rückgaben an die ehemaligen Kolonien angesagt (oder zumindestens in der Diskussion).
(23.9.25) (24.9.25)
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