VII. Koloniale Gesellschaften (88 – 99)

1) Koloniale Gesellschaften sind bislang kaum theoretisch konzeptualisiert worden. Die Autoren graben 2 Texte aus – Furnivall (1944, am Beispiel Burma – mehr ökonomisch orientiert) und Smith (1965, am Beispiel der britischen Karibik, mehr kulturell ausgerichtet). Klar sollte erst mal sein, dass es keine gute Idee ist, diese gesellschaftlichen Realitäten auf nur 2 Zustände zu schreddern – Kolonisierende vs. Kolonisierte oder Imperialisten vs. Nationalisten. Die Kolonisierenden haben in ihren Diasporagemeinschaften eigene Welten geschaffen, die Kolonisierten wurden unterschiedlich stark umgesellschaftet – oft bis hin zu einer Art sozialen Revolution. Es herrschte ein hohes Maß an Migration (rein, raus, quer zu imperialen Grenzen).- In diesem Buch werden nicht nur 2 Perspektiven (Ökonomie, Kultur) eingenommen, sondern eine ganze Reihe, was natürlich anzustreben ist.

2) Die neuen sozialen Welten der Amerikas werden hier vor allem anhand von 4 geographischen und Kulturräumen erörtert: (1) Die nordamerikanischen Kolonien begannen zwar als Ableger Europas, ließen aber ihre Ursprünge soziokulturell weit hinter sich.- In den 3 europäisch geprägten Kulturräumen des amerikanischen Südens, Brasilien (2), der Karibik (3) und dem hispanoamerikansichen Festland (4) entstanden aus indigenen, afrikanischen und europäischen Elementen kombinierte Mischgesellschaften, die sich noch viel weiter von europäischen Vorbildern entfernten. Dem ethnisch exklusiven Norden stand ein ethnisch inklusiver Süden gegenüber.

3) Einige Faktoren verkomplizierten das Gesamtbild erheblich, darunter: 1: Eine Art „Pigmentokratie„, d.h. eine abgestufte Hierarchie nach Hautfarbe – von „reinblütigen“ Spaniern bis zu den indianischen Massen (besonders in (4), aber ohne Allgemeingültigkeitsanspruch). 2: Da alle Sklavereiregime die Freilassung von Sklaven vorsahen, gab es etwa in (2) und (3) die „farbigen Freien“. In der großen Revolution auf Saint-Domingue (1791+) spielten wohlhabende „farbige“ Plantagenbesitzer eine führende Rolle. Der einzige eiserne Grundtatbestand über Jahrhunderte war die umfassende Deprivation der Indiomassen.

4) Die koloniale Abgrenzung und Distanzierung in Asien und Afrika unterschied sich von den Verhältnissen in den Amerikas deutlich. Nirgendwo in der Alten Welt entstanden so etwas wie Sklavereigesellschaften vom karibischen Typ ebensowenig wie ausgewachsene europäisch-einheimische Mischgesellschaften. Die Kolonialismen haben hier keine Gesellschaften geschaffen, sondern nur bestehende umgeformt. Überwiegend typisch ist ein ausgeprägtes Distanzverhalten, Selbstabkapselung und segregationelle Lebenspraxis. Das Ausmaß der „Gegen-Akkulturation“, der Anpassung der Kolonisierer an die Kolonisierten blieb gering. Kaum etwa traten Europäer aus freien Stücken zu nichtchristlichen Religionen über. 1811 bis 1816 gab es ein britisches Interregnum in Batavia (niederländische Kolonie/heute Djakarta). In den Augen der Briten waren die dortigen Niederländer in skandalöser Weise asiatisch „infiziert“, sie bräuchten eine kulturelle „Entkontaminierung“. Und so lebten die Briten auch in Indien. Mittelpunkt ihres geselligen Lebens wurde der „Club“, wo man zwar von Einheimischen bedient wurde, aber die Einheimischen normalerweise keinen Zutritt hatten.

5) Koloniale Städte und „plurale Gesellschaften“: Koloniale Städte gab es extrem viele und die gesellschaftlichen Stadtverhältnisse konnten sehr unterschiedlich sein. Eine starke Tendenz war das räumliche Muster der Segregation der Wohngebiete nach rassischen Kriterien. Segregation und Rassismus waren niemals so wirkungsmächtig wie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Viele Weiße in den Kolonien zogen sich aus den gemischten Wohngebieten zurück. Die Autoren stellen dem Konzept der „dual cities“ bewußt ihr Konzept der „pluralen Städte“ gegenüber. Nicht selten waren diese Städte kosmopolitische Schmelztiegel und Hexenkessel. Immigrierte nicht-westliche Minderheiten übernahmen in vielen Städten die Funktion von kommerziellen Vermittlerschichten. Die Autoren resümieren: „Die ethnische und soziale Distanz, die den soziologischen Kern des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert ausmacht, läßt sich nirgendwo besser studieren als in der kolonialen Stadt.“ (96)

(13.9.25) (14.9.25)


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